Interview

Roberto, Ihr Beruf und Ihre Aufgaben sind die eines „ausübenden Musikers“. Warum machen Sie das?

Roberto_Seidel_PortraitIch kann nichts anderes! In meinen ersten zehn Lebensjahren habe ich meine Gefühle,Freude,Traurigkeit etc. durch Singen ausgerückt, dann als ich schon schwere Kompositionen am Klavier ausführen konnte, habe ich meine Lehrer mit Tschaikowsky und Rachmaninow genervt. Musizieren hat als Grundlage, den Ausdruck der Befindlichkeit, des inneren Menschen, es hat also für mich immer mit Emotionen zu tun. Weshalb mir auch heute noch der Zugang zur Musik Weberns und Bergs völlig fehlt.

Später lernte ich, dass ich das Musizieren zwar als Motor die eigene Emotionalität hat, ich jedoch einen Zugang zum Denken und Komponieren des Autors finden muss, um einer Komposition wirklich gerecht zu werden. Dann stellt man die eigene Emotionalität hinten an und erfährt durch die gedruckten Noten bzw.die Partituren,welches Denken den oft längst gestorbenen Komponisten zueigen gewesen ist.Das kann sehr,sehr spannend sein,man kann sich auch irren,auf alle Fälle setzt es ein umfangreiches Studium seines gesamten Werkes voraus und vor allem auch seiner Biografie,seiner Briefe und der Zeugnisse von Zeitgenossen bzw. Schülern.

Gibt es Komponisten,deren Denken und damit deren Werken du dich besonders nahe oder verwandt fühlen kannst?

Ich wurde durch frühe Höreindrücke schon im ersten Lebensjahr geprägt.Meine Mutter spielte Klavier und man stelle das Radio an,um mich zu beruhigen,wenn ich allein im Zimmer sein musste.

Ja, Mozart, Haydn und Bach waren es vor allen Dingen,später Schubert und Brahms.Meine ersten Schallplatten waren Schubertlieder mit Christa Ludwig,Walzer von Johann Strauss,dann Brahms Erste Symphonie ,Tschaikowsy sechste Symphonie und der Bolero von Ravel,den ich immer wieder gehört habe.

Heute kann ich sagen,dass mir Bach,Mozart,Schubert,und Brahms wohl meinem Wesen am verwandtesten scheinen,daher spielen sie auch eine grosse Rolle bei der Auswahl der Werke,die ich mit dem Symphonierorchester oder dem Chor dirigiere, bei Liederabenden mit meinen Solisten und Orgelkonzertprogrammen.

Welche Musiker haben sie beeinflusst?

Oh,viele. Zuerst das Klavierspiel meiner Mutter und dann die Stimme von Christa Ludwig von der Schallplatte.Mit sieben sang ich dem Komponisten und Kinderchorleiter des BR,Prof.Kurt Brüggemann vor-Haydn „Die Lust auf dem Lande“.In den fast acht Jahren meiner Kinderchorzeit beim BR habe ich die stimmlichen und musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten gelernt,nicht über den Intellekt,sondern „learning by doing“,das ging aber nur,weil wir alle ein Grundvertrauen in Prof.Brüggemann hatten.Ich war nach meiner Zeit noch in regelmässigen schriftlichen Austausch mit ihm,bis zu seinem Tod 2001.

Tief bewegt hat mich der erste Besuch einer Aufführung der Matthäuspassion von Bach unter Karl Richter,ich war damals zwölf.Vier Jahre später war ich privater Orgelschüler von Richter,sang eine Zeit im Münchner Bachchor mit,korrepetierte die Proben und lernte grundliegendes im bezug auf Schütz,Bach und Händel.Richters überraschender Tod hat mich schmerzlich berührt,ich habe den Proberaum erst im Jahr 1998 wieder betreten,als der damalige Leiter des Münchner Bachchores,Prof.Hanns-Martin Schneidt,mich als Assistenten geholt hat und ich dann Proben für u.a. Hindemith „Fliederrequiem“,Bach h-moll Messe und Verdi „Requiem“ mit dem Chor gehalten habe.Damit habe ich das alles überwunden.

Der Dirigent Sergiu Celeibidache hat auf dein Musizieren auch einen starken Einfluss gehabt.

Ja,er hat nicht nur Strukturen hörbar und erlebbar gemacht,er hat durch die Phänomenologie erst vieles verständlich machen können.Ich bin ihm bei einer Probe in der Lukaskirche zu Bruckners 4.Symphonie erstmals persönlich vorgestellt worden und war in allen Proben im Herkulessaal ,danach in der Philharmonie am Gasteig.Dafür habe ich Veranstaltungen beim Studium geschwänzt,später sogar,als ich Chordirektor an den Städtischen Bühnen in Augsburg war,meinen Dienst.So wertvoll waren mir diese Höreindrücke bei den Proben.Celi hat uns die Ohren geöffnet ,die Proben und die Aufführungen wurden zum „Erlebniss Musik“,mein Denken hat sich verändert,erweitert,vertieft,man lief Gefahr davon abhängig zu werden.Heute weiss ich,dass man sich irgendwann davon lösen muss,um zum „Selbst“ zu gelangen.Ein schwerer Prozess,denn Abhängigkeiten bieten zum einen Schutz,zum anderen,wird man dem Vorgelebten,dem Vorbild nie gerecht.Man braucht eine lange Zeit,um sich so anzunehmen,wie man ist,mit den Stärken,den Unvollkommenheiten und vor allem den Schwächen.Das gelingt im Ansatz erst in der sogenannten „Mitte des Lebens“.

Wie ist Dein Verhältniss zur zeitgenössischen Musik?

Ich habe in der Vergangenen Saison die „Light Mass“ von Laurence Traiger uraufgeführt,die „Drei Seligpreisungen“ von 2009 des Lübecker Komponisten Dirk Uka und dessen Singspiel für Kinder „Zachäus“ ,das 2010 uraufgeführt wurde,zum ersten Mal in München im Konzert dirigiert.Das ist schon Musik ,die im 21.Jahrhundert entstanden ist und natürlich ihre Wurzeln im 20.Jahrhundert hat.

Für mich stellt immer beim Lesen einer Patritur oder beim Hören eines Werkes die Frage,ob ich emotional von den Klängen berührt werde und ob die Musik eine wesentliche Aussage hat,oder nicht.Unterhaltungsmusik interessiert mich nicht.Dann untersuche ich das Verhältniss der Form zum Inhalt und des harmonischen,melodischen und rhythmischen Materials.So mache ich das natürlich auch bei Bach,Mozart,Schubert etc. Dann ist die nächste Frage,ob dieses Werk mit dem mir zur Verfügung stehenden Chores und Orchesters realisierbar, und wieviel Zeit brauche ich dafür. Ich schätze die Light Mass von Traiger und die Seligpreisungen von Uka sehr hoch ein.Sie stehen auf dem Fundament der Tonalität,die Form bei Traigers Komposition an Mozart und Haydn orientiert,Ukas Chorkomposition hat Schütz und Bach als formelle Grundlage.Beide Chorkompositionen sind vom Stimmumfang und den musikalischen Anforderungen für Amateursänger bestens geeignet,dazu reich an Vielfalt des Ausdrucks.Wie oft bekomme ich Werke vorgelegt,die kaum ausführbar sind.

Prof.Gerhard Wimberger,bei dem ich privat Dirigieren studiert habe und in dessen Kompositionsklasse ich am Mozarteum gewesen bin,legte immer grossen Wert auf einen guten musikalischen Einfall,dessen Ausarbeitung dann handwerkliches Können erforderte und dessen Ergebniss dann die emotionale Ebene erreichen sollte,sonst ist die Musik nichts wert.

Ich habe am Theater in Magdeburg die Choreinstudierung zu Berthold Goldschmitds „Beatrice Cenci“ gemacht,hatte gute Gespräche mit dem damals schon hochbetagten Komponisten.Es wurde ein grosser Erfolg!In der Philharmonie in Berlin konnte ich eine Probe von „Saint Francois d ` Assise“ von Olivier Messiaen untr der Leitung von Segii Ozawa besuchen und hatte die Gelegenheit Messiean kennenzulernen.Dieses Werk und die Begegnung mit dem Komponisten hRoberto_Seidel_Portraitaben mich tief beeindruckt.

In München habe ich dann „vita mortalium vigilia“ von Klemens vereno gemacht.Ich kannte den Komponisten aus Salzburg und hatte 1988 die Uraufführung dieses Werkes besucht.Jetzt plane ich eine szenische Aufführung seiner Passion „das Leben uns zu schenken“ aus dem Jahr 2000 ,für die kommenden Saison 2011/2012.

Dann fasziniert mich die Kammermusik und Chormusik vom Tigran Manssurian,der in Armenien in Eriwan lebt.

Wir haben uns anlässlich der Erstaufführung seines Streichquartetts in München kennengelernt.Das ist eine ungeheuer reiche Musiksprache und sehr bewegend.